Rede zu Joschka Fischer 17.01.2001

Auszug aus:

Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

142. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001

Aktuelle Stunde

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Merkel, lieber Herr Merz, ich glaube, wenn es um Auseinandersetzungen mit Joschka Fischer geht, kann ich es fast mit jedem in diesem Saal aufnehmen. (Hans-Werner Bertl [SPD]: Die nicht!) Wir haben immer um Sachverhalte und Einschätzungen gestritten. Wir haben auch oft um politische Positionen gestritten. Im Übrigen ist die Auseinandersetzung um die Militanz bei den 68ern eine ungeschriebene Geschichte. Aber gerade weil ich weiß, dass vieles auch über 68 zu diskutieren ist, frage ich mich zunehmend irritiert, worum es jetzt hier geht. Es geht nicht um die Professionalität des Außenministers, nicht um Versagen im Amt, nicht um Missbrauch im Amt und auch nicht um Untaten, die nicht bekannt wären. Es geht auch nicht nur um 68. Vielmehr geht es um einen hochmoralisch aufgeladenen Kulturkampf. Deswegen erinnert mich in dieser Diskussion, obwohl es um ganz andere Sujets geht, vieles an die Clinton-Debatte in den USA. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) – Genau daran erinnert es mich. Es scheint eine Generationendebatte zu sein, aber im Kern ist es eine Auseinandersetzung um das, was Politik ist und was Politiker sind. Da sage ich: Vorsicht vor Pharisäertum, Vorsicht vor Puritanismus! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Politiker haben Politik zu betreiben und die Kirchen sind für die Moral zuständig. Das ist ein feiner und sehr wichtiger Unterschied. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wehe, wenn wir nur Politiker nach dem Bild puritanischer und pharisäischer Debatten bekommen. Wir hätten in diesem Land keinen Theodor Heuss, keinen Herbert Wehner und keinen Willy Brandt gehabt. Wir hätten übrigens auch Franz Josef Strauß nicht länger als ein paar Monate gehabt. Das müssen Sie sich ganz genau überlegen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber alle haben keine Steine geworfen!) Nun will ich auch etwas zu 68 sagen. 68 ist ein Mythos. Ich finde, es ist sehr wichtig und interessant, über diesen Mythos zu reden, und zwar nicht nur über seine heroische, sondern auch über seine belastende Seite. 68 war für die damals politisch Verantwortlichen – das gehört zur Tragödie dieses Landes – tatsächlich ein unglaublicher Schock. Dieser Schock hielt noch länger an: 68 ist eine Bleilast für die Generationen, die nach uns gekommen sind; das weiß ich wohl. Deswegen ist es vielleicht wichtig, 68 ein kleines bisschen vom Sockel zu heben. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Allerdings: Nicht zu begreifen, was 68 war, und kein Interesse dafür zu entwickeln, ist bodenlos naiv, und zwar naiver, als Politiker sein dürfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Wenn ich in diesem Land etwas hasse, dann sind das zu späte Siege, die gefeiert werden, wenn die Kämpfe sehr billig werden. Auch in diesem Punkt gibt es eine unselige Tradition. (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) Sie sollten sich die damaligen Gegner zum Vorbild nehmen. Zum Beispiel hat Herr Boenisch, der sich 68 wirklich fürchten musste, in der „Bild“-Zeitung mit großem Respekt von diesen Auseinandersetzungen gesprochen und gesagt, sie hätten auch ihn verändert. Horst Herold – Claudia Roth hat das Zitat gebracht – war es, der gefragt hat, ob Ulrike Meinhof nicht unter anderen Umständen hätte Gesundheitspolitikerin werden können. Horst Herold war einer, der damals um sein Leben fürchten musste. Ich möchte Hans-Jochen Vogel – damals auch ein Gegner – zitieren. Er hat Folgendes gesagt – ich bitte Sie, die Tonlage dieses Zitates zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht ein bisschen in Ihre Herzen aufzunehmen –: Was bedeutet die Causa Fischer für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen insgesamt? Stärkt er oder schwächt er sie? – Das ist doch die entscheidende Frage. – Ich meine, er stellt beiden ein gutes Zeugnis aus und stärkt sie deshalb. Er stärkt beide: sowohl Demokratie als auch Gemeinwesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Liebe Frau Merkel und lieber Herr von Klaeden, Sie können sich an 68 abarbeiten, aber Sie sollten ziemlich froh sein, dass es uns gegeben hat. Die Republik sähe nämlich anders aus, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt kommt doch die Rechtfertigung!) wenn dieses Kapitel deutscher Geschichte ausgefallen wäre. Frau Merkel, wenn wir schon über die Grundlagen der Demokratie reden, muss ich Ihnen sagen: Zu den Grundlagen der Demokratie gehören nicht nur Regeln und Institutionen, sondern immer auch die unverwechselbare Geschichte dieser Demokratie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Martin Hohmann [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn heute dazu?) > Zurück
© 2013 Dr. Antje Vollmer